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Laufen für den Lauf der Welt - rituelle Läufe auf dem Weltfestival der Sportkulturen

Vom 19.- bis 25. 6. 2000 erlebte Hannover ein Sportfestival der anderen

Art:

Es ging nicht um Meter und Sekunden, nicht um Medaillen und Rekorde,

sondern

um Zuschauen und Mitmachen. 800 Aktive aus 40 Nationen, zahlreiche

Hannoveraner/

innen und auch viele EXPO-Besucher/innen wurden in die Vergangenheit und in

die

bunte Welt fremder Kulturen entführt, sie erlebten auf dem 3. Weltfestival

der

Sportkulturen vielfältige Spiele, Tänze und Bewegungskünste, die

trotz oder

gerade wegen ihrer Wurzeln in der Tradition faszinierend waren. Der Bogen

der

Bewegungsaktivitäten reichte vom Goaßlschnölln

(Österreich), über den Lion

Dance (China) und Lacrosse (Kanada) bis zum Federfußball (Singapur).

Der

Landessportbund Berlin und der Berliner Turnerbund hatten eine Delegation

entsandt, die in traditioneller Turntracht verschiedene Turnspiele aus

dem

19. Jahrhundert vorführte. All denen, die mitspielen wollten, stellten

die

Berliner die im Berliner Spielbüchlein abgedruckten Spielregeln zur

Verfügung.

Wer sich überzeugen möchte, daß alte Spiele viel Spaß

machen können, sollte

sich das Spielbüchlein beim Landessportbund Berlin besorgen.

Bei der abschließenden Gala des Weltfestivals wurden zehn Spiele

bzw.

Sportarten prämiert und als Teil des Weltkulturerbes deklariert. Zu

diesen

Sportarten mit besonders hohem kulturellem Wert gehörte auch ein

ursprünglich

ritueller Lauf, der Carrera de la Bola der Tarahumara aus Mexiko. Die

Tarahumara verfügen über ausgezeichnete Läufer, angeblich

können sie fast

300 km ohne Unterbrechung im Dauerlauf zurücklegen. Verbreitet sind

Wettkämpfe

zwischen zwei Mannschaften, die über Distanzen zwischen 5 und 23 km

gegeneinander

antreten. Typisch ist, daß sie während des Laufens einen 6 cm dicken

Holzball

mit den Füßen vorwärts treiben. Diesem Ball wurden magische

Wirkungen auf die

Geschwindigkeit und Ausdauer der Läufer zugeschrieben.

Große körperliche Leistungsfähigkeit erforderten auch die

"Klotzläufe", die bei

indianischen Stämmen, u.a. bei den Timbira oder den Canela in

Brasilien,

verbreitet sind. Beim Klotzrennen treten ebenfalls zwei Teams gegeneinander

an,

die dabei ca. 10 bis 12 km zurücklegen und dabei einen Klotz von ca. 100

kg

mitschleppen. Dieser Klotz wird während des Laufes von einem an den

nächsten

Läufer übergeben, um dann am Ziel, dem Dorfplatz, abgeworfen zu

werden. Auch

Frauen und Mädchen legen laufend lange Strecken zurück, sie tragen

ebenfalls

Klötze, die allerdings etwas leichter sind als die der Läufer.

Die Klotzläufe sind Teil der Festkultur des Stammes, sie haben neben

dem

physischen Training vielfältige soziale Funktionen. So fördert die

Identi-

fizierung mit den Läufern und Läuferinnen den sozialen Zusammenhalt

der

Gruppe. Außerdem werden den Klotzläufen rituelle, kultische und

magische

Wirkungen zugeschrieben. Möglicherweise sollen solche Läufe den Lauf

der

Sonne symbolisieren und damit den Fortbestand der Welt garantieren.

Ob die Tarahumara-Läufer in Hannover für das meist schöne

Wetter verant-

wortlich waren, weiß ich nicht, sie trugen aber sicherlich zum

Gelingen

dieses faszinierenden Sportereignisses bei.

Gertrud Pfister