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Schau wie sie alle laufen

Hugh Jones berichtet über aktuelle Laufphänomene in England. Hugh

Jones ist ehemaliger Weltklasseläufer, unter anderem Sieger des London

Marathon 1982 in 2:09:24, und arbeitet zur Zeit als Generalsekretär der

internationalen Veranstaltergemeinschaft AIMS.

Was bringt den Menschen auf Trab? Bei Kindern ist es purer Bewegungsdrang

– sie sind impulsiv und ungeduldig. Erwachsene laufen eher zweckbewusst,

wenn sie zum Beispiel einen Bus oder eine Straßenbahn erwischen wollen.

Top-Läufer beziehen ihre Motivation aus einer Art Mischung von beidem:

Jugendlicher Enthusiasmus verbindet sich bei ihnen mit dem Zweck, den

Lebensunterhalt zu verdienen. Alle, die nicht zu dieser Kategorie zählen,

– und die bilden die übergroße Mehrheit – benötigen

einen anderen Ansporn zum Laufen.

Wie sieht dieser Ansporn aus? Welche magische Formel beschwört

Tausende, an einem bestimmten Ort zusammen zu kommen, um dort zu laufen? In

London sind wir derzeit Zeugen eines interessanten „Ausbruchs” von

Laufenthusiasmus. Die populärste Distanz sind dabei 10km, doch bisher gibt

es in Großbritannien kaum eine Veranstaltung von Rang und Namen, die

diese Strecke anbietet. Der größte 10km-Lauf kam gerade einmal auf

knapp 2000 Teilnehmer – eine lächerliche Zahl im Vergleich zum

London-Marathon oder dem Great North Run. Doch neuerdings finden sich im

Wettkampfkalender für London gleich drei Zehner innerhalb von drei Wochen.

Und es sieht ganz so aus, als würde jede dieser Veranstaltungen rund 5000

Läufer begrüßen können.

Zwei dieser Läufe wurden erst auf der Marathonmesse im April

vorgestellt. Einer davon, ausgerichtet von einem großen Lauf-Shop,

führt direkt durch das Stadtzentrum. Der zweite, von Nike gesponsert,

spielt sich größtenteils auf dem Gelände der berühmten

Botanischen Gärten von Kew ab. Beide Läufe finden gleichzeitig am 22.

Juli statt. Im vergangenen Jahr führte genau dieser Umstand dazu, dass man

im Vorfeld eines der beiden Rennen absagte. Mittlerweile jedoch hat gerade der

enorme Werbeaufwand, der seitens Nike betrieben wurde, dem

“Läufermarkt” einen ungeahnten Schub verliehen.

Der Lauf wurde in einer Londoner Gratiszeitung, die praktisch jeder Pendler

in den Vorortzügen liest, im Fernsehen und mit einer Plakatkampagne in der

U-Bahn groß angekündigt. Jede Schaufensterauslage im

„Niketown” am Oxford Circus war ganz darauf ausgerichtet, den Lauf

zu verkaufen. Als dann schließlich die Anmeldung eröffnet wurde, war

das Limit von 10 000 Startplätzen in nur drei Tagen vergeben. Die

begrenzte Kapazität der Strecke im Botanischen Garten erfordert es nun, in

drei Wellen im Abstand von jeweils 15 Minuten zu starten.

Der für den gleichen Tag angesetzte 10km-Lauf in der Innenstadt hatte

eine spezielle Werbung gar nicht mehr nötig. Er ist sozusagen willkommener

Ersatz für die große Schar der Enttäuschten, die keine

Startnummer für das Nike-Rennen ergattern konnten (und die jetzt wissen,

dass man schon vor dem Start schnell sein muss). Der dritte Zehner im Bunde,

der bis voriges Jahr ein reiner Frauenlauf war, zählte bereits 3 000

Anfragen, bevor die Anmeldeformulare überhaupt gedruckt waren. Er findet

am 1. Juli statt, doch dürfte die Teilnehmergrenze von 6 000 schon weit

früher erreicht werden. Die Laufenthusiasten haben aus der

„Nike-Erfahrung“ gelernt: Nur frühes Melden sichert die

Teilnahme. Die Ausrichter stehen deshalb vor dem organisatorischen Problem,

dass viele Läufer ihre Meldung unbedingt persönlich aushändigen

wollen, weil sie der Post nicht trauen.

Was lernen wir daraus – außer, dass die Werbung funktioniert?

Dass sie in diesem speziellen Fall so eingeschlagen hat, gibt uns einen Hinweis

darauf, warum Leute zum Laufen kommen. Diese Kampagne wurde nämlich direkt

in den Alltag der Londoner projiziert. Ob bei der U-Bahn-Fahrt oder beim

Zeitunglesen, stets wurde man an den Lauf erinnert. Und was noch mehr

zählte: Die Anzeigen stellten den potentiellen Läufer – mithin

die Rezipienten der Werbung – ganz in den Mittelpunkt.

Das Konzept war, mit den Namen der dem Lauf vorausgehenden Monate

gewissermaßen den Zuwachs an Fitness und Lebensfreude zu dokumentieren,

etwa nach dem Motto: „April sagt, schaff den Bus“ – Mai sagt:

„Renne nach dem Bus“; April sagt: „Nimm ein Taxi“

– Juni sagt: „Überhole es“; April sagt: „Stell

dich an den linken Rand“ (auf der Rolltreppe in der Metro) – Juni

sagt: „Renne rechts vorbei nach oben“. Alle Sprüche beziehen

sich auf Dinge, die den Leuten in London aus dem Alltag wohl bekannt sind,

weshalb sie auch sofort in aller Munde waren.

Hinzu kommt, dass die englischen Monatsnamen April, May und June zugleich

auch gebräuchliche Frauennamen sind. Dazu muss man wissen, dass in den

letzten Jahren reine Frauenläufe die größten Zuwachsraten

verzeichneten. So gibt es die Serie „Race for Life“, die

mittlerweile sechzig 5km-Läufe für Frauen umfasst. Auch die

„Flora Women’s Challenge“ verzeichnete im dritten Jahr

bereits 16 000 Teilnehmerinnen. Und selbst der Nike-Lauf wurde anfangs als

Frauenlauf vermarktet und erst später auch für Männer

geöffnet.

Die jüngste U-Bahn-Reklame („Juli läuft”) zeigt einen

stilisierten Läufer, der allem Anschein nach männlichen Geschlechts

ist. Das soll die Damen nicht schockieren, sondern wohl eher sagen: Da

Männer und Frauen täglich dicht gedrängt in der U-Bahn zusammen

stehen, können sie doch ruhig auch zusammen laufen. Der Erfolg der

Frauenläufe in jüngster Zeit hat dem Straßenlauf einfach nur

ein neues Potential eröffnet, war doch dieser Sport zuvor deutlich von

Männern dominiert. Und Männer mit Frauen zusammen zu bringen (und

umgekehrt), ist ohnehin noch nie ein Kunststück gewesen – dafür

sorgt schon die Natur. Nun sind endlich die Voraussetzungen geschaffen, dass

sich diese auch im Straßenlaufsport durchsetzt.

Hugh Jones